Die Zeitschrift für Sprachunterricht und Sprachenlernen

Editorial

Seit einiger Zeit sind verschiedene Kantone dabei, in der Primarschule wieder Noten einzuführen. Die Diskussion darüber wurde besonders heftig in Genf ausgetragen, offensichtlich als Reaktion auf die dort so zahlreichen Reformen in den 80er und 90er Jahren.Wenig später hat das Waadtland die Debatte wieder aufgegriffen, wahrscheinlich wird es dort zur Abstimmung darüber kommen. Und jetzt folgt der Kanton Zürich, wenn er mitten im Schuljahr ein neues Zeugnis einführt.
Die Frage der Noten verweist auf ein tiefer liegendes Problem. Was sich in der Unruhe kund tut, die sich innerhalb der Lehrerschaft und bei Eltern bemerkbar macht, ist das Bedürfnis nach Klärung der Schülerbeurteilung. Bleiben wir realistisch: Noten können die grundsätzlichen Probleme der Beurteilung, die sie stellvertretend ausdrücken, nicht lösen; im besten Fall vermitteln sie den Eindruck, die Probleme in den Griff zu bekommen…
Die Frage nach der ‘richtigen’ Schülerbeurteilung ist auch eine Kernfrage in den Projekten zu Bildungsstandards, an denen zurzeit in vielen Ländern intensiv gearbeitet wird und die wir deshalb als Thema dieser Nummer gewählt haben.
Lassen wir einmal die pädagogischen Aspekte der Noten als Mittel der Motivation und der Disziplinierung im Unterricht beiseite und setzen wir als gegeben, dass Noten eine quantifi-zierende Art der Beurteilung sind, die inter- und intraindivi-duelle Leistungsvergleiche ermöglicht. Gerade aus dieser Perspektive wäre es sicher vernünftig, Kompetenzmodelle abzuwarten, wie sie in den Projekten zu Bildungsstandards erarbeitet werden, damit sich Beurteilung und Notengebung auf ein Referenzsystem abstützen können. So erhielte eine alte Praxis mit ihren hinlänglich bekannten Grenzen immerhin eine solidere Grundlage. Nur: Die Schule braucht auch Lösungen hier und heute, sie kann ja die Beurteilung nicht aussetzen, bis die Kompetenzmodelle verfügbar sind. Ansätze zu solchen Lösungen gibt es, im Bereich der Fremdsprachen in Form von neueren Beurteilungsinstrumenten wie z.B. lingualevel, die unter Berücksichtigung des Europäischen Referenzrahmens entwickelt wurden. Die Lehrerschaft hat begonnen, sich mit diesen Instrumenten vertraut zu machen, und man ist dabei auszuloten, wie sich solche Instrumente auf kohärente Weise in den Sprachunterricht integrieren lassen. Warum macht man sich dann daran – gerade in der augenblicklichen Übergangsphase und angesichts der erwähnten Unruhe –, alte Praktiken der Notengebung wieder einzuführen, die sich als willkürlich und wenig wirksam erwiesen haben, weil sie eines transparenten Referenzsystems entbehren?
Vor diesem Hintergrund stellt sich die vorliegende Nummer von Babylonia der Diskussion um Bildungsstandards und bietet eine erste Bestandsaufnahme dazu an. Die Redaktion hat die sprachbezogenen Arbeiten im Rahmen des HarmoS-Projektes aus der Nähe mitverfolgt und z.T. mitgeprägt, woraus sich auch die verspätete Herausgabe dieser Nummer erklärt. Der Schwerpunkt in diesem Heft liegt auf der Schweizer Schulwirklichkeit, es werden aber auch grundsätzliche Aspekte von Bildungsstandards diskutiert.