Die Zeitschrift für Sprachunterricht und Sprachenlernen

Editorial

Dies ist ein Editorial in eigener Sache. Gänzlich Babylonia gewidmet. Jene Frage einer Kollegin, vor etlichen Jahren gestellt, woher denn das derart Inspirierende an der “Hure Babylon” stamme, hat mich unablässig beschäftigt. Das weiblich Mysteriöse der Prostitution belebt an sich unsere Vorstellungen, aber im Falle von Babylon kommt die Einbettung in einen Mythos hinzu, der nicht nur mit seinen vielfältigen Bildern unsere westliche Kultur immer wieder bereichert, sondern unser christlich-jüdisches Unterbewusstsein besonders tief, ja archetypisch geprägt hat. Da ist die Faszination des Wechselspiels zwischen Mythos und Wahrheit. Warum konnte die Hauptstadt einer der brillantesten und komplexesten Kulturen der Menschheitsgeschichte, die nicht nur mit dem „Codex Hammurapi“ Gerechtigkeit und Menschenwürde hoch hielt, sondern dank der Keilschrift und einem breiten Wissen ausserordentlichen kulturellen, sozialen und materiellen Reichtum erreichen konnte, zum Inbegriff des Bösen schlechthin werden, zur Hybris, höchster Ausdruck menschlicher Überheblichkeit und Arroganz? Wie konnte eine Gesellschaft, die in ihrer Blüte Kleinasien nicht einfach mit blosser Macht, sondern mit der Kraft ihrer rechtlichen Institutionen und mit der Fähigkeit zur Assimilation und sozialen Integration unterschiedlicher Lebensweisen und Sprachen beherrschen konnte als Mythos des Wirrwarrs, der chaotischen Unordnung und des Lasters in die Geschichte eingehen? Die historische Wahrheit der Stadt zwischen dem Tigris und dem Euphrat wurde wohl deshalb verdrängt und verklärt, weil es in der Geschichte von Babylon und des Turms zu Babel nicht mehr um eine Stadt und um eine Kultur, sondern um Gott und den Menschen geht. In dieser Geschichte wie sie im Alten und Neuen Testament verdichtet wurde, lässt die Botschaft an Deutlichkeit nichts vermissen: Türme zu bauen, um Gott herauszufordern ist derart verhängnisvoll, dass den Menschen die schrecklichste und allerhärteste aller Gottesstrafen treffen muss:  „Wohlan, wir wollen hinabsteigen und dort ihre Sprache verwirren, so dass keiner mehr die Sprache versteht.– Und Jahwe zerstreute sie von dort über die ganze Erde hin, und sie hörten auf, die Stadt zu bauen. Darum nennt man ihren Namen Babel; denn dort hat Jahwe die Sprache der ganzen Erde verwirrt.“ (Genesis 11, 7-9). Den Menschen wird das eigentlich Menschliche genommen, das was sie verbindet, die Sprache. Die mythische Verklärung ist gänzlich, die Instrumentalisierung der Realität unumstösslich, denn der babylonische Turm war in Wahrheit Ausdruck elementarer Gottesverehrung, der Suche nach Gott: „bab“ das Tor, „ili“ zu Gott.
Babylonia hat die Inspiration aus der Idee geschöpft, den Menschen – symbolisch – ihre Sprachen zurückzugeben und damit menschliche Dignität wieder herzustellen. Das haben wir in den letzten zwanzig Jahren mit unserem kleinen Beitrag versucht und, so hoffen wir, werden es auch für die nächsten zwanzig mit gleicher Leidenschaft tun.
GG