Die Zeitschrift für Sprachunterricht und Sprachenlernen

Editorial

Die Sprachverwandtschaft zwischen der Erstsprache und der zu lernenden Zweitsprache spielt eine entscheidende Rolle für den Lernerfolg. Italienisch ist für Personen mit französischer Muttersprache leichter zu lernen als Deutsch. Und wenn jemand, der eine europäische Sprache spricht, Chinesisch lernen möchte, braucht er/sie viel mehr Zeit, um ein mit einer verwandten Sprache vergleichbareres Niveau zu erreichen.
Umso erstaunlicher ist es, dass die Sprachverwandtschaft oder der Abstand zwischen zwei Sprachen, – auf Französisch spricht man auch von distance linguistique, und auf Englisch von language distance – in der Bildungspolitik oft weniger Beachtung findet. Man geht davon aus, dass die gleichen Beherrschungsniveaus erreicht werden können, ob es sich nun um eine Sprache aus der gleichen Sprachfamilie handelt oder eine aus einer entfernteren. Lernende in der Deutschschweiz, die Englisch lernen, benötigen weniger Zeit, um ein bestimmtes Niveau in dieser Sprache zu erreichen als wenn sie Französisch lernen. Tessiner Schülerinnen und Schüler haben viel mehr Mühe das gleiche Niveau in Deutsch zu erreichen als Deutschsprechenden Lernenden, die in der Deutschschweiz Englisch lernen. Tessiner Schülerinnen und Schüler haben viel mehr Mühe in Deutsch auf das Niveau zu gelangen, das ihre Deutschschweizer Kolleginnen und Kollegen in Englisch erreichen.
Sicher spielen auch Faktoren wie Motivation oder das Mass an „exposure“, eine grosse Rolle. Es gibt Studien über die Lernzeit, die Lernende verschiedener Muttersprachen benötigen, um eine bestimmte Niveaustufe zu erreichen, aber diese sind, wahrscheinlich aufgrund der komplizierten variablen Faktoren, recht selten. In Babylonia 2/2005 hat Erwin Tschirner die amerikanischen Forschungen über die Lernzeit, die Personen unterschiedlichen Muttersprachen benötigen um Englisch zu lernen, erwähnt. Als Grundlage für curriculare Entscheidungen wäre es wünschenswert mehr empirische Daten zu sammeln. So könnte vielleicht die Frage beantwortet werden, ob man für das Lernen von Englisch nicht mit weniger Stunden auszukommen wäre, und dies zu Gunsten von anderen, „schwierigeren“ Sprachen (wie Französisch).
Braucht man wirklich so viele Jahre schulischen Unterricht, um eine Sprache wie Englisch in der Schweiz ordentlich zu lernen, und könnte man die Zeit nicht besser für die „schwierigeren“ Nationalsprachen einsetzen, welche die Lernenden sich nicht so leicht ausserhalb der Schule aneignen können? Ein Unterricht, der auch die Entwicklung der Lernerautonomie und das Lernen lernen betont, sollte eigentlich die Lernenden dazu befähigen, sich mit genügend „exposure“ und Motivation selbständig weitere Sprachkenntnisse anzueignen.
In der Diskussion über Sprachen auf der Primarstufe oder in den Berufsschulen in der Deutschschweiz betont man, dass Schülerinnen und Schüler von Französisch, der schwierigeren Sprache, überfordert sind, eher als von Englisch, der verwandteren Sprache. Wäre die Konsequenz, der schwierigeren Sprache mehr Zeit zu widmen, nicht eine Überlegung wert?
G. S.