Editorial
Die vorliegende Ausgabe von Babylonia markiert das Ende eines Jahres, 2014, das in mancher Hinsicht von symbolischer Bedeutung ist. Unsere Zeitschrift liess sich seit je vom babylonischen Mythos inspirieren, insbesondere von den Werten einer grossen Zivilisation, die, freilich nicht ohne Gewaltanwendung, im mesopotamischen Zweistromland eine Kultur der Integration und des Zusammenlebens von unterschiedlichen Ethnien und Sprachen kreierte. Richten wir heute den Blick auf den dortigen Schauplatz, so ereilen uns blankes Entsetzen und Trauer. Die Geschichte macht uns zu Zuschauern einer schier unvorstellbaren Gewalt, einer Gewalt, die die dunkelsten Seiten des Menschen zum Vorschein bringt und gleichsam Ausdruck von blindem Dogmatismus, von Intoleranz und von unvorstellbarer Menschenfeindlichkeit ist. Die Geschichte wiederholt sich auch in ihren Schattenseiten. Deshalb ist Resignation fehl am Platz. Unter Achtung grundlegender Unterschiede, gilt es auch für uns, jene Zeichen zu erfassen, die in unserer Umgebung auf intolerante und xenophobe Haltungen hindeuten. Und leider gibt es davon in letzter Zeit in der Schweiz zur Genüge: Alles Andersartige – ginge es nach dem Ansinnen des rechten politischen Spektrums – soll ausgegrenzt, ja an der Grenze aufgehalten werden – allenfalls mit neuen Mauern. Alles, was die Grundwerte und Prinzipien einer humanistischen, offenen und toleranten Gesellschaft ausmacht soll in egoistischer und arroganter Manier gekündigt werden – so etwa die europäische Menschenrechtskonvention. Wie ist es nur denkbar, dass man sich vom Recht auf Leben, auf Freiheit, auf Sicherheit und auf Meinungsfreiheit im Zeichen einer nationalistischen, selbstreferentiellen Haltung verabschieden will? Gerade eine solche Haltung lässt Intoleranz und damit auch Gewalt wieder aufkeimen.
In anderer Epoche, es war 1914, vor hundert Jahren und am Beginn des ersten Weltkrieges, hielt Carl Spitteler in einer Atmosphäre der starken Bedrohung für die Schweiz und der sich anbahnenden inneren Zerrissenheit, v.a. zwischen der deutschen und der französischen Schweiz, seine Ansprache: Unser Schweizer Standpunkt. Darin war von der Notwendigkeit, sich besser kennenzulernen und zu verstehen die Rede, vom Zusammenhalt, von der Neutralität, vom Respekt der Minderheiten. Aber Spitteler sprach auch von Bescheidenheit an Stelle jenes Hochmuts, der uns dazu verleitet, damals wie heute, alle anderen abzukanzeln, wahlweise die Deutschen oder die Italiener, die Tessiner oder die Welschen (als „schlechtere Schweizer“),und empfahl, die patriotischen Phantasien möglichst leise ertönen zu lassen.
Dort können wir wieder anknüpfen. Auch mit Babylonia. Auch mit dieser Nummer, die eine wiederum symbolisch wichtige zehnjährige Periode (2004-2014) der Bemühungen um die Sprachen als Ausdruck von kultureller Vielfalt, von Respekt und von Toleranz aufnimmt.
So wünschen wir allen eine gute und anregende Lektüre und hoffen, dass es uns gelingt, diese Werte hochzuhalten und zu einer Gesellschaft beizutragen, die jegliche Form von Gewalt und Menschenverachtung ablehnt. Ggh