Die Zeitschrift für Sprachunterricht und Sprachenlernen

Editorial

Karl der V. sass auf dem Kaiserthron zwischen 1519 und 1556. So wunderbar und bedeutsam diese Periode der Spätrenaissance für die abendländische Kultur war, so extravagant, genial und gebildet war Karl der V., der dank seinem besonders offenen Geist unauslöschliche Spuren hinterlassen hat. Hiezu gehört seine Einstellung zu den Sprachen: Quot linguas quis callet, tot homines valet – „Mit jeder Sprache, die ein Mensch kennt ist er zugleich ein anderer Mensch“. Die Sprachen eröffnen dem Menschen einen Horizont der Vielfalt, durch sie kann er die Welt und sich selbst erkennen, denn jede Sprache stellt eine andere Art des Menschseins, des Denkens, des Fühlens, des gegenseitigen Aufeinanderzugehens dar. Dies alles gehört zu unserem kulturellen Erbe und ist Bestandteil unserer europäischen Geschichte. In einer von Homogeneisierungs- und Vereinheitlichungstendenzen charakterisierten Epoche täten wir eigentlich gut daran, dazu Sorge zu tragen. Unter diesen Tendenzen taucht eine Legende auf, die sich in den letzten Jahren herausgebildet hat. Sie gilt es zu entzaubern, zu dekonstruieren: Es ist die Legende, die uns davon erzählt, dass es eine Einheitssprache, eine lingua franca gäbe, die unsere Kommunikationsprobleme zu lösen vermag und den Schlüssel zur Zukunft darstellt. Diese Legende verbreitet nicht nur Illusionen unter vielen Menschen, sie bringt auch das kulturelle Erbe und das vielfältige Menschsein in Gefahr. Glücklicherweise ist deren Dekonstruktion aber auch hierzulande voll im Gange. So berichten wir in dieser Babylonianummer über eine Studie der Fachhochschule Solothurn, die einmal mehr nachweist, dass die Forderung nach sprachlicher Vielfalt nicht nur eine fixe Idee von wenigen Ewiggestrigen ist, sondern einem Bedürfnis der schweizerischen Wirtschaft entspricht. Solche Studien sind mittlerweile mehrfach durchgeführt worden, so z.B. auch von der Fachhochschule der italienischen Schweiz, und sie bestätigen allesamt, dass die Nachfrage der Arbeitswelt, v.a. der kleinen und mittleren Unternehmungen, nach den Landessprachen lebenswichtig und für die Konkurrenzfähigkeit entscheidend ist. Uns soll es aber nicht einfach um die Dekonstruktion der Legende, um die pars destruens gehen, wir wollen einen Beitrag zu pars costruens, also zu einer neuen Geschichte leisten oder besser: im Geiste Karl des V. zur Erneuerung der alten Geschichte der sprachlichen und kulturellen Vielfalt.
Wörter stellen nicht nur das äussere Gerüst der Sprachen dar, sie sind auch deren Seelen. Jedes Neue Wort ist ein Erlebnis. Besondere didaktische Aufmerksamkeit für die Wörter bedeutet deshalb, den Lernenden helfen, die Sprachen und die Vielfalt zu entdecken, die immer wieder Erstaunen auslösen kann. Babylonia hat dem Thema Wortschatzlernen bereits eine Nummer (2/1996) gewidmet, jetzt schlagen wir neue Ideen und neue Vorschläge zum lexical approach vor.

Die Redaktion